Dienstag, 30. August 2011

Erich Schanda: Der letzte Schnitt

Es ist soweit. Heute, genau um zwölf Uhr mittags sind nach dem Haarschneiden alle Innenkommandos vollständig angetreten. Mich haben sie dieses Mal auch mitgenommen, Befehl ist Befehl, das gilt auch für mich, den Barbier. Auf einer der höher gelegenen Terrassen und für jedermann sichtbar, steht er, der Galgen.
Der Galgen; ein knapp vier Meter hohes Gerüst mit einer rohgezimmerten, kastenartigen Plattform darunter, an der seitlich ein klobiges Pedal angebracht ist. Tritt der Scharfrichter auf dieses Pedal, klappt der Kastendeckel herunter. Und wer gerade mit dem Strick um den Hals auf dem Deckel steht, stürzt dann einen Meter tiefer und bricht sich dabei das Genick.
Inzwischen hat es sich herumgesprochen: Ein junger polnischer Freiheitskämpfer soll hier und heute auf einen Sondererlass des deutschen Führers gehängt werden. Er steht auch bereits unten, neben dem Kasten, mit nacktem Oberkörper, auf dem kaum Haare zu sehen sind, weil sie erst vorgestern von mir geschnitten worden sind, in einer verschmutzten, graublau gestreiften Hose. Barfüßig, die Hände sind ihm hinter dem Rücken zusammengebunden worden. Das Gemurmel wird leiser, hört gleich darauf ganz auf, denn der Kommandant tritt vor und beginnt mit befehlsgewohnter, lauter Stimme den Erlass aus Berlin mit dem Todesurteil und den Angaben von Gründen zu verlesen. Es sind viele und jeder einzelne davon reicht bereits für den Tod. Er kommt nie in meine Stube zum Rasieren oder Schneiden, ich werde täglich zu ihm geführt.
Plötzlich gerät er ins Stocken.
Einige Seiten des Urteils scheinen abhanden gekommen zu sein. SS-Männer werden losgeschickt, um sie zu suchen. Nach ein paar Minuten kehren sie unverrichteter Dinge im Laufschritt zurück; der Schlüssel zum Aktenschrank ist im Moment unauffindbar. Der Kommandant teilt mit, dass wir den Rest der Vergehen dieser «Kreatur» später zu hören bekommen. Er sagt nicht «Untermensch», auch nicht «Kommunist» oder «Antifaschist», nein, er spuckt das Wort «Kreatur» regelrecht aus in Richtung des Delinquenten.
Dann gibt er dem Henker ein Zeichen.
Der Pole fragt in kaum verständlichem Deutsch, ob er die Stufen hinaufsteigen soll.
«Ja, natürlich - worauf wartest du noch?", erwidert der SS-Mann, der ihm lächelnd und aufmunternd zugleich mit dem Gewehrkolben auf die Schulter schlägt.
Wortlos steigt der Junge die hölzernen Stufen hinauf. Zwei mit dieser Aufgabe betraute Häftlinge legen ihm schnell und ohne ihn anzusehen die Schlinge um den Hals und treten dann zu uns in die Reihe zurück. Die unnatürliche Stille schmerzt wie ein Schnitt mit dem Rasiermesser. Sekunden dehnen sich zu Ewigkeiten. Der Pole hat die Augen fest zusammengekniffen. Er steht vollkommen still, nicht einmal sein Brustkorb bewegt sich beim Atmen. Vielleicht atmet er gar nicht mehr, vielleicht will er versuchen, auf eine andere, eigene Art seinem Schicksal zu entfliehen.
Es gelingt ihm nicht.
Plötzlich geht ein SS-Mann auf die Plattform zu und tritt energisch auf das Pedal. Der Junge verschwindet mit einem polternden Geräusch bis zu den Knien im Kasten. Allem Anschein nach berührt er mit seinen Fußspitzen den Boden, denn das Seil ist nicht straff gespannt, wie ich erkennen kann. Seine Augen sind weit aufgerissen. Er versucht unbeholfen, wieder auf den Kasten zusteigen. Der SS-Mann mit dem Gewehr in der Armbeuge stürzt hinzu und stößt einige Latten des Kastens zur Seite. Jetzt sehen wir, dass der Junge tatsächlich auf den Zehenspitzen steht. Sein Gesicht wird erst dunkelrot, läuft dann blau an. Sein Körper, seine Oberarme und Beine zucken konvulsivisch. Zischende, gurgelnde Laute kommen aus seinem Mund, während seine Augen nach wie vor unnatürlich groß sind. Ich stehe in der ersten Reihe, blicke in sein Gesicht, aber er sieht mich nicht.
Durch die Reihen der stummen Zuschauer geht ein Raunen, als ob der Wind durch meine Friseurstube bläst, abgeschnittene Haare umherwirbelt und dann wieder achtlos zu Boden taumeln lässt, um in einer anderen Richtung, in einer anderen Ecke dasselbe Spiel zu wiederholen. Nach endlosen Minuten wird von irgendjemand ein Befehl gebrüllt. Zwei Helfer des Henkers eilen zu dem Jungen. Einer hebt ihn vorsichtig auf, der andere schwingt den Strick mit einer Schlinge noch einmal über den Galgen und zerrt ihn fest. Dann stoßen sie ihn gemeinsam wieder herunter – ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Nur einen Blick haben sie miteinander ausgetauscht. Einen Blick, dem ein stummes Zählen folgte.
Eins – zwei – und los.
Doch wieder bricht sich der Junge das Genick nicht, aber nun hängt er frei am Strick.
Sein Gesicht wird schnell dunkelblau, fast schwarz durch das angestaute Blut: vor unseren Augen wird er in Zeitlupe erwürgt. Langsam dreht er sich hin und her, hundertachtzig Grad nach links, hundertachtzig Grad nach rechts und wieder zurück und wieder hin und her, begleitet von Lauten, die von keinem Menschen stammen können. Mir wird schlecht, ich kann kaum noch atmen, möchte zurück in die Friseurstube, Haare schneiden, Bärte rasieren, Schweiß von Lebenden in mich aufnehmen. Stattdessen stehe ich gelähmt in der Reihe, rieche Blut, Urin, Ausdünstungen des Todes des Jungen da oben.
Er müsste eigentlich tot sein, aber er ist es noch nicht.
Alle starren ihn an. Ich kann es nicht mehr, blicke über ihn hinweg. Zwei Mann stehen jeweils oben in den Wachtürmen. Die meisten blicken eher gelangweilt nach unten. Vor dem elektrisch geladenen Stacheldraht liegt eine Division der SS hinter ihren Maschinengewehren. Blutjunge Burschen, die meisten davon keine zwanzig Jahre alt. Ich sehe wie in einem Teleskop, wie sie krampfhaft versuchen, einen unbeteiligten, heroischen und mannhaften Gesichtsausdruck zu bewahren. Nur das Glitzern in ihren Augen verrät sie. Sie sind Kinder, Geschöpfe des Wahnsinns und durch ihren Eid auf den Führer emotionslose Bestien.
Es wird totenstill.
Der Pole beginnt zu würgen, zu röcheln. Plötzlich krampft er sich zusammen, als ob elektrischer Strom durch ihn geleitet würde. Dann, nach einer Viertelstunde – das Schauspiel ist noch in vollem Gange – erhalten wir plötzlich und unerwartet den Befehl zum Wegtreten. Beim Abmarschieren kommen wir am SS-Henker vorbei, vor dem wir in Haltung vorübergehen müssen.
Mützen ab.
Die meisten von uns nehmen die Mütze ganz unverhohlen nicht vor dem Henker, sondern vor seinem Opfer ab, das nicht mehr wahrnimmt, dass es von Hunderten seiner Schicksalsgefährten mit einem letzten Gruß geehrt wird
Eine paar Minuten später müssen wir zur Arbeit antreten. Der polnische Junge dreht sich noch immer hin und her, zuckt mit den Armen, mit den Beinen. Sein Gesicht ist jetzt fahlgrau. Die Zunge hängt ihm seitlich aus dem Mund. Ein SS-Mann mit schwarzen, glänzenden Stiefeln und silbergrauen Totenköpfen, mit Pistole und Alpenjägermütze versehen trotz der Hitze, schreitet gähnend davor auf und ab. Ich kenne ihn, er ist krank, leidet unter Haarausfall, weil eitrige Krätze seinen Hinterkopf auffrisst und er deshalb nie ohne Kopfbedeckung herumläuft.
Das Sterben hat eine dreiviertel Stunde gedauert.
Dann, kurz bevor die anderen in die Steinbrüche ausrücken, höre ich Gesprächsfetzen von den zwei Soldaten, die am Lagereingang, unweit von meiner Friseurstube, Wache stehen.
«Es war der Falsche, hast du schon gehört? Er war gar nicht der Pole, sondern ein kommunistischer Bolschewik ... Sie haben wieder einmal den Falschen aufgehängt!»
«Na und?», gibt der andere Soldat mit gelangweiltem Tonfall zurück, «Ist doch egal. Hauptsache, wir haben es bald hinter uns. Sollen sie doch alle verrecken, die Kommunisten, Juden, Zigeuner und Untermenschen. Heil Hitler!»
Ich balle meine Faust und gehe weiter auf meine Friseurstube zu, so wie jeden Tag. Noch zehn Stunden bis zum nächsten Schlaf. Noch zehn Sekunden, bis ich den deutschen Soldaten neben mir haben werde; ich kenne ihn gut, er ist abartig veranlagt, fasst unter dem Rasiertuch immer nach hinten zwischen meine Beine. Er grinst mich an, freut sich auf seinen nächsten Besuch bei mir.
Ich lächle zurück.
Noch vier Schritte, bis ich ihm die arische Kehle durchschneiden werde.
Mit einem einzigen letzten Schnitt, mit einem scharf geschliffenen, deutschen Rasiermesser.
Noch drei.
Noch zwei.
Vergib mir, Jahwe, vergib mir. Shalom.
Jetzt.



(21,0 P.)

Montag, 29. August 2011

Oliver Meiser (Ungarn): zu( - )frieden


ein paar Worte


Frieden ist
mehr als

mit Mühe
satt werden,

wochentags
malochen,

samstags
einkaufen,

sonntagvormittags
beten

und

sonntagnachmittags
„Tooor!“ schreien.

...

Frieden will
Bildung,

Frieden will
Kultur,

Frieden will
Wohlstand,

für alle
gleichermaßen.


Denn zufrieden ist allein,
zu Frieden bereit nur,
wem es gut geht!







Mißverständnis


Es gab Krieg.

Weil der Moslem
die Glocken
der Kirche
für
Kanonenschüsse,

weil der Christ
die Stimme
des Muezzim
für
Angriffsgeheul

gehalten hatte.

...

Es gab Krieg.

Dabei wollten
sie alle
Gott
nur bitten
um Frieden,

ewigen Frieden…

Und trotzdem:
Es gab Krieg!

Wieder...

Weil Frieden
nun einmal
mehr ist
als bloß
guter Wille...
Frieden ist mehr


Frieden ist
mehr als schöne Worte,
von den Schwätzern
dieser Sorte
haben wir genug!

Frieden heißt
Wohlstand für uns alle,
denn allein in
diesem Falle
ist er fest und klug!

Frieden heißt
Lernen und heißt Wissen,
nur mit diesen
zwei Prämissen
hat er einen Sinn!

Frieden heißt
Kunst und heißt Natur,
auch mit diesen
beiden nur
ist er ein Gewinn!

Frieden heißt,
sich einzulassen,
an den Händen
sich zu fassen,
und sich gut zu führen!

So nur wird,
was wir begehren,
uns die Zukunft
einst bescheren,
unsre Mühen küren!









(20,7 P.)

Zwischenbemerkung

Es scheint, ich liege auf ganzer Linie falsch.
Natürlich unterlag ich einem Missverständnis: Ein Blog zur Friedenslesung mit den Ergebnissen der Friedenslesung. Da schien mir eindeutig, dass dies - da es sich um keine kommerzielle Nutzung handelte - sich um eine Vorstellung im Sinne der Pauschalfreigabe zur Verwendung der Texte im Rahmen der Friedenslesung 2011 handelte. Dass sich einzelne Autoren gesonderte Zusicherungen machen ließen, lässt schon tief blicken. Dass der zuständige Mitarbeiter Angst um seinen Arbeitsplatz hat, ist verständlich.
Dass jemand Angst vor Missbrauch seiner Texte hat, ist auch verständlich.
Schwerer zu verstehen, wenn wir uns als Friedensfreunde zu bekämpfen beginnen.
Ich freue mich also über jeden, der seinen Text frei gibt: Hier wird über den unmittelbaren internen Weg des Kulturrings in Berlin e.V. veröffentlicht, was bei dem diesjährigen Wettbewerb mit Erfolg teilgenommen hat. Dies sollte über jene Texte hinausgehen, die bei der Lesung präsentiert werden und die Aufnahme in die Anthologie finden. Viele wären es wert.
Nunmehr brauchte ich von jedem eine gesonderte Zustimmung. Danke!
Also hat der Kommerz über das künstlerische Engagement gewonnen. Wirklich danke!

Sonntag, 28. August 2011

Ergebnisübersicht

Texte der folgenden Autorinnen und Autoren können veröffentlicht werden mit untenstehendem Rechtehinweis:

Rubrik  Kurzprosa:
1. Platz Herr Jürgen Rath Hamburg
2. Platz Frau Manuela Jäkel Solingen
3. Platz Frau Katharina Jäschke Wiesbaden;
4. Platz Frau Lotte Brügmann-Eberhardt Kiel
5. Platz Frau Ulla Gessner Har-Gil Tel Aviv

Rubrik Lyrik:

1. Platz Frau Britta Erlemann Kassel
2. Platz Herr Johann Peter Greifenstein-Nenderoth
3. Platz Frau Carmen Gauger Dettmannsdorf
4. Platz Herr Werner Simon Waltersberg
5. Platz Herr Horst Decker Ranstadt
6. Platz Herr Erhardt Volker Hamburg
7. Platz Herr Andre Steinbach Zittau
8. Platz Herr Klaus Landahl Halstenbeek
9. Platz Frau Ursula Kramm Konowalow, Kuhsdorf




Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Ralf Burnicki: Schonfrist

Schonfrist

Die Sirenen
Funktionieren weltweit

Aber Schutzzonen
Werden kleiner

Der Tag fährt mit einem Hochstart
Drauflos

Doch vielleicht sind bei uns
Zwischen zwei Gedanken

Noch Schwimmhäute
Verborgen
Heute





Freundschaft

Freundschaft das ist
wenn dir jemand
Wasser einlässt
in die Badewanne,
wenns dir
dreckig geht.





Frieden ist wie...

ein Sonnenaufgang.
Die Landschaft
steigt durch die Mitte
der Sonnenscheibe

Wir Zaungäste
zurückgekehrt zum Anfang -

staunend
halten wir
Licht in der Hand




(20,6 P.)

Samstag, 27. August 2011

Susanne Brandt: Mastenwald u.a.

Mastenwald (1938)

Für Felix Nussbaum (1904-1944)

Die Lampe brennt nicht mehr.
Verworrene Masten,
kein Zeichen
wohin und woher.

Schon hat der Sturm die Macht
und zerrt an den Balken,
gespenstisch
im Dunkel der Nacht.

Aus Tiefen aufgetaucht:
ein hungriger Raubfisch,
der fordert
und nimmt was er braucht.

Der Maler pinselt noch,
als hieße die letzte
Gewissheit:
Und ich male doch!



Mit dem Stift in der Hand

Chanson für Käthe Kollwitz

Sie rüttelt am ruhigen Gewissen,
schaut wachsam auf das, was geschieht.
Im Unrecht erkennt sie die Mördergestalt,
zeigt Dinge, die niemand gern sieht.

Ergriffen vom Elend der Kinder,
hält sie ihren Zorn nicht zurück,
bleibt stark in der Liebe, lockt Freude hervor -
Balance zwischen Trauer und Glück.

Sie zeichnet die Not vieler Frauen:
Wer dient und gehorcht, gilt als gut.
Sie rackern und schuften und legen sich krumm,
bis keine mehr merkt, was sie tut.

Da schleicht sich der Krieg in die Köpfe
und nistet sich tückisch dort ein.
Sie setzt sich zur Wehr mit dem Stift in der Hand,
malt wieder und wieder ihr Nein.

Ihr Blick sucht die Botschaft der Augen.
Sie findet die Angst im Gesicht.
Wenn manche auch reden von Ehre und Sieg,
sie traut den Maskierungen nicht.

Sie spricht eine andere Sprache.
erzählt ohne Worte, was ist.
Dass niemand, der sich ihre Bilder anschaut,
die Würde der Menschen vergisst.

Zwischen Heide und Himmel
Chanson für *Etty Hillesum (1914-1943)

Bei ihr brannte oft in der Nacht noch ein Licht,
dann schrieb sie in ihr Tagebuch.
Verbittert und sprachlos aufs Ende zu warten,
war für sie noch lang nicht genug.
Lag um sie herum auch soviel schon in Scherben,
sie holte die Teilchen ans Licht.
An all diesen Brüchen, an Widersprüchen -
daran zerbrach sie nicht.

Sie wusste, da ist ein besonderer Schatz,
den niemand ihr wegnehmen kann:
die Lust noch zu lieben, zu lachen zu leben
fing jeden Tag neu für sie an.
Sie warf sich nicht wehrlos dem Tod vor die Füße,
blieb fragend und wach vor ihm stehn.
Sie wollte ihn aufrichtig kennenlernen,
um nicht in ihm unterzugehn.

Wie malend mit kraftvollem Pinselstrich,
entwickelte sie Wort für Wort
die Bilder, gerahmt zwischen Heide und Himmel
inmitten von Westerbork.
Sie schrieb von den Menschen in dunklen Baracken,
sah Dinge, die keiner mehr sah:
verborgen noch leuchtende Lebensfarben
die waren bei ihr wieder da.

Ihr Weg wurde enger, das schreckte sie nicht.
Der Himmel darüber blieb weit,
gab Luft noch zum Atmen - trotz Not und Bedrängnis
erschien sie ihr kostbar, die Zeit.
Sie fand für das Leben ganz andere Maße,
hat nicht mehr die Tage gezählt.
In tiefen Begegnungen, Stunden, Gedanken,
da war für sie alles erfüllt.


*Etty Hillesum (1914-1943) lebte als jüdische Studentin in Amsterdam und verfasste 1941-1943 ein bis heute viel beachtetes literarisch-philosophisches Tagebuch, in Deutschland erschienen unter dem Titel „Das denkende Herz“. Sie kam 1943 in Auschwitz um. Ihre Aufzeichnungen wurden erstmals 1981 in den Niederlanden veröffentlicht. 70 Jahre nach Beginn ihrer Aufzeichnungen und 30 Jahre nach der Wiederentdeckung gibt das Jahr 2011 einmal mehr Anlass, an die bemerkenswerte Frau zu erinnern.



(20,6 P.)

Gisela Verges: Ihr Damen und Herren dort oben

1.
Ihr Damen und Herren dort oben,
wenn ihr Kriege führen wollt,
so schickt doch
eure Söhne,
eure Töchter
an die Front!

Was meint ihr,
wie schnell dann
eine friedliche Lösung
gefunden wird!
So ganz
ohne Krieg!

2.
Friedliche Gegenwehr

Und als die Krise kam
Die uns bedrohte
Und alle Macht war voller Ohnmacht
Und alle Banker kicherten sich ins Fäustchen
Die armen Länder der Union
Die keine war
Die hielten nur die Hände auf
Und als dann deutlich wurde
Dass die so viel beschworene Demokratie
Nichts weiter war
Als eine Diktatur des Geldes
Ging ein verächtlich Lachen durch das Land
Und dieser bittre Ton erfasst das ganze Volk
Und niemand glaubt den Mächtigen dort oben mehr
Der Ton
Der tief von unten kam
Der ließ Minister zittern
Und ratlos sein in ihren selbst gewählten Abstande vom Volk
Denn selbst Armee und Polizei
Die lachten mit
Und alle Journalisten verweigerten die Lügen
Mit denen man die Macht behalten wollte
Und machten Witze übers Parlament
Und alle Lehrer lehrten Widerstand
Den friedlichen
In den Familien lachten die Hartzvierempfänger
Die Rentner lachten und die Studiker
Und selbst die Kinder spielten am liebsten Rebellion
Und wer am lautesten gelacht
Der hat gewonnen
In den Theatern führte man nur Spiele auf
Die voller Hohn und Spott
Die Oberen im Spiegel zeigten

Wie kann das Lachen man verbieten
So fragt die Macht Gesetze ab
Und siehe da
Es gibt nicht einen Paragraphen
Der uns das Lachen untersagt
Und worauf warten wir????

3.
Zwei Dinge
Sollten im Leben wichtig sein
Erstens
Das Maßhalten
Damit man nicht zum Verschwender wird
Und die Armen dieser Welt verhöhnt
Und zweitens
Die Selbsterkenntnis
Die uns mit gutem Gefühl
In einen Spiegel blicken
Und immer wieder kritisch hinterfragen lässt
Ob das
Was man tat
Nicht nur für einen selbst
Sondern auch
Sinn für andere hatte




(20,3 P.)

Donnerstag, 25. August 2011

Irmgard Manno-Kotz: 29. August 1

Geschichtsunterricht


Mancher kam im Altertum
Kurzfristig zu Kriegesruhm:
Hannibal mit Elefanten
(Die beinah Rom überrannten),
Hektor, Cäsar, Claudius…
Erst war Krieg und dann war Schluss.
War´n doch einstmals stolze Reiter!
Lern daraus und werd gescheiter:
Haus zerstört und Ställe leer –
Frieden ist mehr!

Manchen gab man Ehrennamen
Eh sie auf den Friedhof kamen:
Karl Martell – wie dilettantisch,
Richard Löwenherz – romantisch,
Johann Ohneland – wie hässlich,
Iwan Grosny – einfach grässlich,
Führten Krieg und sind begraben.
Schau, was sie für´n Beispiel gaben.
Krieg bringt Feinde und viel Ehr,
Doch Frieden ist mehr!


Manchen hing vorm Todesstoße
Man den Zusatz dran „der Große“:
Alex, dieser Makedone,
Karl – dem gab der Papst die Krone,
Friedrich, der mit den Pomm-fritz,
Peter kriegt den Schiffbau spitz –
Siehste, was sie davon haben?
Führten Krieg und sind begraben.
Große Männer hatten´s schwer –
Frieden ist mehr!

Gleich verlor zu Anfang Abel gegen Kain, den wüsten Täter,
Nach der Sintflut dann in Babel kloppten sich die Wüstenväter.
Faustkeil, Spieß, Gewehr (geladen)
Kost´ viel Geld und bringt nur Schaden.
Hört ihr, wie es wütend zischt?
Und was blieb von allem? Nischt.
Seht, dass sie davon nichts haben:
Alle sind zum Schluss begraben.
Packt doch weg das Schießgewehr
Und vertragt euch, bitte sehr...
Frieden ist mehr!



(20,3)

Dienstag, 23. August 2011

Rainer Iversen (Dänemark): Todsicher

Wenn die Mächtigen dieser Welt

wieder einmal ihre Macht benutzen,
geht es ihnen nicht um Öl oder Geld,
nein, um die Freiheit, um dem Aggressor die Flügel zu stutzen.
- ganz sicher!
Doch völlig allein in Tel Aviv im Park sitzt ein Kind – ein ganz kleines –
und weint vor Entsetzen, und ich fühl, es wär meines.

Wenn uns die Militärs davon hören lassen,
wie sauber das zugeht,
mit Präzision nur die Technik des Feindes zu zerstören,
dann weiß ich, dass das kleine Dorf an der Grenze noch steht.
- ganz sicher!
Doch völlig allein in Chicago im Park sitzt ein Kind – ein ganz kleines –
und fragt nach dem Vater, und ich fühl, es wär meines.

Wenn uns die Experten von Funk und Fernsehen
genau analysieren die Lage,
die Ursach’ und Folge – weil sie doch alles verstehen,
dann glaub ich’s und hab keine Frage.
- ganz sicher!
Doch völlig allein in Kuwait im Park sitzt ein Kind – ein ganz kleines –
und träumt vom Menschen als Bruder und Schwester, und ich fühl, es wär meines.

Wenn ich von hüben und drüben höre
die Mär vom gerechten, vom heiligen Kriege
und dass Gott oder Allah doch mit uns wäre,
dann hab ich Vertrauen wie ein Kind in der Wiege.
- ganz sicher!
Doch völlig allein in Kabul neben der toten Mutter ein Kind – ein ganz kleines –
und versteht nicht, was geschah, es kannte nur Gutes, und ich fühl, es wär meines.

Wenn ich sie seh, die Soldatenmassen,
die Hand gestreckt zum Siegeszeichen
und kampfbereit – auf die kann man sich gewisslich verlassen –
dann gibt es beim Gegner etwa 10000 Leichen.
- todsicher!
Doch völlig allein in Bagdad im Sand liegt ein Kind – ein ganz kleines –
und spricht nicht mehr, und ich fühl, es wär meines.

Wenn der Welthandel blüht,
und das ist für jeden äußerst wichtig,
muss man auch akzeptieren, was mit Waffen geschieht,
wir sind doch liberal, und Marktwirtschaft ist richtig.
- todsicher!
Doch nicht mehr allein demonstrieren Kinder überall auf der Welt – und alles ganz kleine –
und tragen Schilder ”Kinder der Welt – gegen Gewalt”, und ich fühl, es wär’n meine.


(20,3)

Montag, 22. August 2011

Peter Suska-Zerbes: Die Pusteblume

Unaufhaltsam nähern sich die heißen Tage des Sommers. Selbst werde ich ihn nicht mehr erleben, denkt Pia, die Pusteblume, halb traurig, weil ihre Zeit, der Frühling, vorbei ist, halb gespannt, was jenseits dieser Blumenwiese auf sie wartet.
Tief versunken in ihren Abschiedsschmerz gleitet ihr Blick achtsam an ihr herunter. Ihre Blätter kauern matt am Boden, beginnen langsam vor sich hinzuwelken, werden überall trocken, brüchig. Wo sind die Tage als diese Blätter saftig-grün nach oben ragten, mit scharf geschwungenen Zähnen, die ihrer Art von Frühlingsboten den stolzen Namen ´Löwenzahn´ eintrugen?
Da, wo einst ihr dotter-gelber Blütenkopf die Bienen zur Rast einlud, schwingt jetzt im zarten Hauch des Morgenwindes ein grau-weißes Kugelgespinst, fein und sehr zerbrechlich. Wehmütig betrachtet sie eine weitere kleine Spore, die sich löst, davon schwebt, irgendwo verschwindet zwischen den anderen ebenfalls alt und zerbrechlich gewordenen Pusteblumen, die in Tausenden und Abertausenden auf der Wiese dicht nebeneinander stehen.
Bedrückt erinnert sie sich an den Tag ihrer Jugend, als dieser Heilige in einfacher Kutte ihnen vom tiefen Frieden predigte. „Gelobt und gepriesen sei das Eine, durch euch Schwestern Blumen, und Frieden denen, die ihn in innerer Betrachtung suchen“, sprach er sie damals freundlich an. Begeistert erzählte er dann, das Eine, die nie-vergehende Einheit, sei in allem und allen zu finden, auch in ihnen, den leuchtend gelben Blumen, wenn sie nur zu sehen und hören verstehen würden.
Die meisten der angesprochenen Blumen prusteten los, lachten hinter vorgehaltenem Blättern, wendeten sich ab, schüttelten missbilligend ihre leuchtend-gelben Blütenköpfe, raunten sich gegenseitig zu, sie hätten wahrlich anderes zu tun, als einem solchen religiösen Spinner zuzuhören.
Pia aber hatte sich nicht abgewendet, hatte sie sich doch immer nach einer Liebe, nach einem Frieden gesehnt, die nie verging. Der einfache Mönch schien ihre stumme Frage zu verstehen, denn gleich legte er dar, jede der Blumen könne den wahren Frieden in sich und um sich entdecken, so sie nur all ihre Missgunst, Ihre Gier und ihre Eitelkeit aufgeben würden. Dann sei es möglich, die letzte Stille in sich zu erfahren. „Seid bereit, in euch hineinzuhorchen, dann wird der ewige Frieden sich in jedem von euch in all seiner Tiefe offenbaren.“
Die wenigsten hörten diesem seltsamen Heiligen, wie sie ihn nannten, überhaupt noch zu, hatten sie sich doch längst wieder ihrem Tagesgeschäft zugewendet, trugen den üblichen Wiesenklatsch untereinander weiter, aber Pia merkte sich jedes seiner Worte.
Von diesem Tag an war die Pusteblume wie ausgewechselt. Niemals mehr klagte sie darüber, dass sie ja nur eine von vielen auf dieser fast gelben Blumenwiese sei, hörte statt dessen jeder ihrer vielen Schwestern geduldig und aufmerksam zu, schenkte hier Trost, gab dort Rat, diente ihnen wie ihre geringste Magd, widmete sich ansonsten ganz dem inneren Schauen und Betrachten. Kurz, die Pusteblume tat es genauso, wie dieser Bettelmönch es die Blumen der Wiese gelehrt hatte.
So zogen viele gute und weniger gute Frühlingstage ins Land, und keiner verging, ohne dass sich die Pusteblume nicht ganz ihren frommen Betrachtungen und Werken hingab.
Aber je mehr sich die Pusteblume bemühte, den Frieden in sich zu finden, je weiter schien er von ihr fern zu sein. So betete sie eines verregneten Morgens in all ihrer Inbrunst, als sie bereits all ihre anfängliche Sicherheit und Zuversicht verloren hatte: „Niemals werde ich an der Liebe und den Frieden zweifeln, wenn mir nur ein kleines Zeichen der Allmacht gegeben wird. Ich weiß, große Wunder wurden gewirkt, Kranke geheilt, Blinde sehend gemacht, und Lahme konnten wieder laufen. Nichts dieser Art verlange ich. Ein ganz, ganz winziges Wunder würde mir als Zeichen der Liebe genügen.“
Erwartungsvoll sah und horchte die Pusteblume danach um sich, aber nichts geschah. Nichts an diesem Tag, und obwohl sie täglich ihr Gebet immer sehnsüchtiger wiederholte, auch nichts an den vielen darauffolgenden Tagen.
Nein, sie verlor nicht ihren Glauben an den ewigen Frieden in ihr, zumindest nicht dauerhaft, denn die Hoffnung auf ihn, wie sie dieser Wandermönch allen Wesen der Wiese gepredigt hatte, verließ sie nie ganz. Sie war davon überzeugt, wenn sie sich nur ausreichend bemühte, würde er ihr ersehnte Gewißheit in der Form eines kleinen Wunders schon gewährt werden.
Bedrückt wendet die Pusteblume auch jetzt sich wieder ihrem Bittgebet zu: „Jetzt am letzten Tag meines Lebens könnte doch ein kleines Wunder geschehen, damit ich im Tod nicht verzage.“ Wie viele Male vorher ist die Pusteblume sich nicht sicher, was sie genau erwartet, aber sie zweifelt nicht daran, dass sie den Frieden in sich erfahren könnte.
So wartet sie Stunde um Stunde. Vergeblich!
Wieder nichts!, denkt sie verzweifelt. Still beginnt die Pusteblume vor sich hinzuweinen, aber plötzlich hört sie eine innere Stimme, die ganz sanft zu ihr spricht: „Pia, du musst die Welt um dich herum nur richtig betrachten, wirklich in sie hineinhorchen.“
Was heißt ´wirklich´?“, fragt die Pusteblume.
Mit Liebe.“
Was heißt mit ´Liebe´?“ fragt sie verunsichert nach.
Mit deinem ganzen Herzen.“
Obwohl die Blume eine gute Weile wartet, in der sie sehnsüchtig mit immer neuen Fragen drängt, bleibt es ganz still. Nichts!
Hat sie sich diese Stimme vielleicht nur eingebildet? Wieder strengt sie sich mit all ihrer verbliebenen Kraft an. „Was soll ich denn tun?“
Nichts, als ein sanfter Wind, der um ihren Zarten, kugelförmigen Kopf streichelt, das Summen einer Biene, die nach einem gelbgebliebenen Löwenzahn Ausschau hält, das Zirpen einer Grille. Aber mit einem Mal wird die Pusteblume ihrer kleinen Wiesenwelt ganz anders gewahr, nachhaltiger, eindringlicher, so als wenn sie die Natur um sie herum noch nie richtig erfahren hätte.
Da ist das leise Zwitschern eines Vogels, der in einem nahestehenden Baum hin und her huscht, am blauen Himmel, eine große Schar von Vögeln, die wie auf ein geheimes Kommando immer wieder die Richtung ändert, ein Tropfen Tau, der still und sanft an ihrem Stengel herunterrinnt.
Nichts, was sie eigentlich nicht schon hunderte Male sah, hörte, fühlte, und doch war da etwas, was sie nie in ihrem innersten Geheimnis gewahr geworden war. Sagte dieser Bettelprediger nicht, dass in allem und allen die Stille, der Frieden zu Hause sei?
Die Pusteblume hatte die ganze Zeit nie verstanden, dass diese Welt in ihrer Tiefe nicht so ist, wie sie ihr schien. Und doch ist es dieselbe Schöpfung, die sie jetzt in ihrer ganzen Vielfalt und Herrlichkeit betrachtet, mit dem Unterschied, dass sie, jetzt am Ende ihres Lebens, dem inneren Frieden endlich begegnet, nachdem sie sich so lange sehnte.
Wieso erst jetzt,?, fragt sie mit einem tiefen Seufzer.
Der Frieden, die innere Stille war immer da, Pia. Die ganze Zeit.“
Aber warum… warum habe ich den inneren Frieden bisher nie sehen, hören und fühlen können?“, fragt die Pusteblume.
Das ist ganz einfach. Du warst nie bei dir, warst nie in dem Frieden in dir.“
Nie bei mir? Aber wieso? Wo sollte ich anders gewesen sein?“
Mit deinen Gedanken warst du ständig unterwegs, wolltest dies, wolltest das, und von einem Wunder hast du etwas Aufsehenerregendes, etwas Ungewöhnliches erwartet. Vergeblich hieltest du nach etwas nie Dagewesenem Ausschau, statt das zu sehen, was wahrhaft um dich herum und in dir ist.“
Das stimmt“, gibt die Pusteblume traurig zu. „Solange ich etwas Außergewöhnliches suchte, erkannte ich nicht das große Wunder, das d bereits in der unfaßbaren Schöpfung geoffenbart ist. Der innere Friede wird dem geschenkt, der bereit ist, einfach nur in sich zu lauschen, der bereit ist, ihn als Geschenk anzunehmen. Er ist nichts, was man haben, besitzen kann. Oh, hätte ich wahrhaft zu sehen, zu hören, zu erfassen verstanden, hätte ich doch nur früher erkannt, dass der Frieden, das Schweigen der Seele in allem und allen zu finden ist, denn dieser innere Friede ist mehr als eine Sache, das man besitzen kann.“


(20,8 P.)

Samstag, 20. August 2011

Rainer Güllich: Das Lichtspieltheater


Eine Fantasie

Eine kleine Stadt im Hessischen. Die Nationalsozialisten waren an der Macht.
Samuel und Aron, zwei Jungen im Alter von zwölf Jahren, waren in der Stadt unterwegs und interessierten sich für das Gehabe der Machthaber in keiner Weise. Was sie interessierte, war das Lichtspieltheater, das demnächst in ihrer Kleinstadt eröffnet werden sollte. Samuel hatte von dieser Art Etablissement schon reden gehört. Auch gelesen hatte er davon. Doch am meisten davon hatte er von Aron erfahren. Der hatte sich schon ein „Lichtspiel“, wie er es nannte, anschauen können. Das war aber schon vor einigen Jahren gewesen, und zwar in einem Wanderkino. Transportfahrzeuge für diese Wanderkinos waren meist als Lieferwagen umgebaute viersitzige Personenwagen. Die Filme wurden in Landgasthöfen, Versammlungshallen oder Scheunen vorgeführt. Aron hatte mit seinem Vater in einer Scheune einen Film anschauen können. Der Film war zwar vollgepfropft mit nationalsozialistischer Propaganda, aber das interessierte nicht, was interessierte, dass waren die bewegten Bilder.
Aber nun in einem eigens dafür eingerichteten Lichtspielhaus einen Film zu sehen, war ein faszinierender Gedanke.
Samuel konnte sich nicht recht vorstellen belebte Bilder auf einer Leinwand zu sehen. So als hätte man die betreffende Szenerie in natura vor Augen. Mit Musik, die aus Lautsprechern kam, mit gesprochenem Wort. Aber Aron hatte durch seine Erzählung in Samuel ein Feuer entfacht. Samuel musste unbedingt ein „Lichtspiel“ sehen.
Doch wie sollte ihnen dies je gelingen. Sie trugen seit einiger Zeit diesen gelben Stern auf der Brust, der verhinderte, dass sie zu diesem „Lichtspiel“ eingelassen werden würden. Sie waren Juden und jüdischen Mitbürgern war es untersagt, an einer kulturellen Veranstaltung teilzunehmen.
Den Stern aber abzulegen bedeutete Gefahr für die gesamte Familie. Das hatten ihnen ihre Eltern deutlich machen können.
Aber was hatten Wünsche nicht für eine Macht über Zwölfjährige. Sie standen beide vor dem „Apollo“. So nannte sich das Lichtspieltheater. In Schaukästen konnte man die Bilder, des auf dem Programm stehenden Filmes, anschauen. Gebannt schauten sich die beiden Zwölfjährigen die Fotos an. Da war ein Bild wie Siegfried den Drachen tötete. Ein anderes Bild zeigte Kriemhild, wie sie den Kopf des getöteten Hagen in Händen hielt. Ja, „Die Nibelungen“ wurden gespielt.
Gelesen, ja verschlungen hatten sie „Die Nibelungensage“ nicht nur einmal, nein mehrmals war die Sage mit heißen Köpfen gelesen worden.
Keine Frage. Diesen Film mussten sie sich anschauen. Sie besprachen sich. Ja, morgen würden sie wiederkommen. Ohne den verhassten Stern auf der Brust.

Am nächsten Nachmittag verließen beide Jungen das Mietshaus, in dem sie mit ihren Eltern lebten. Einen gelben Stern trug keiner mehr von ihnen auf der Brust. Sie liefen auf dem Trottoir die Straße hinunter. Auf der Straße kamen ihnen drei Lastwagen der deutschen Wehrmacht entgegen. Mit aufgesessenen bewaffneten Soldaten. Sie schauten den, an ihnen vorbeifahrenden Fahrzeugen erstaunt hinterher. Diese hielten am Wohnhaus der Jungen an, die bewaffneten Mannschaften sprangen ab und formierten sich vor den Lastwagen. Auf Geheiß des kommandierenden Unteroffiziers stürmten die Soldaten in das Haus.
Samuel und Aron nahmen an, dass es sich um eine der Aktionen gegen ehemalige jüdische Kaufleute handelte, die immer häufiger durchgeführt wurden. Durch fingierte Anzeigen, in denen Ihnen vorgeworfen wurde Diebesgut zu besitzen, wurden ihnen ihre letzten Wertgegenstände entrissen.
Dass sie hier Zeugen einer der gefürchteten Judendeportationen waren, die in den Vernichtungslagern endeten, wurde ihnen nicht bewusst. Auch nicht, dass diese Aktion ihre eigenen Familien betraf.
Samuel und Aron folgten der im Bogen verlaufenden Straße und verloren die Wehrmachtsfahrzeuge aus den Augen.
Zehn Minuten später befanden sie sich an der Kasse des „Apollo“. Die Kartenverkäuferin war eine junge Frau mit dunklen Haaren und schwarzen Augen. Sie begrüßte sie sehr nett. „Schön, dass ihr den Weg hierher gefunden habt. Freut mich Euch hier begrüßen zu können.“
Aron und Samuel schauten sich verdutzt an. Es war selten, dass sie so angesprochen wurden.
„Ihr seid genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort“, fuhr die junge Frau fort. Jeder Tag früher oder später wäre falsch gewesen.“
Dies klang merkwürdig und geheimnisvoll. Ein fragender Blick beider Jungen ging in Richtung Kartenverkäuferin.
Sie gab ihnen jedoch nur die Karten, sagte bestimmend: „Geht nur hinein.“
Aron und Samuel gingen verwirrt in den Kinosaal und nahmen in einer der ersten Reihen Platz. Die geheimnisvollen Worte der Kartenverkäuferin waren jedoch sofort vergessen. Beide bestaunten die weichen Kinosessel, die mit rotem Samt bezogen waren. Links und rechts an den Wänden konnten sie die leuchtenden, glitzernden Lampen bewundern. Der dunkelrote Teppichboden dämpfte die Schritte der anderen eintretenden Kinobesucher. Die Stimmen der Kinogäste drangen nur leise an ihre Ohren. Ehrfurchtsvoll bestaunten beide den herabwallenden Vorhang, der die Kinoleinwand bedeckte.
Erwartungsvoll warteten beide Jungen auf den Beginn der Vorstellung. Und die begann.
Sie sahen den Auszug des jungen Siegfried aus seinem Elternhaus, sahen ihn mit dem Drachen kämpfen, sahen, wie er sein Schwert Balmung gewann, sahen, wie er mit den Burgundern gen Osten zog und sahen den Untergang der Nibelungen.
Als der Film endete, saßen sie wie betäubt in ihren Sesseln. Doch die Vorstellung war noch nicht zu Ende. Es kam noch die Vorschau auf den in der nächsten Woche anlaufenden Film. Mit dem Titel: „Der Weg in die Freiheit“. Selbstverständlich schauten die Freunde weiter zu. Der Film handelte von einer Gruppe Auswanderer, die den heimatlichen Boden verließ, um im verheißungsvollen Amerika ihr Glück zu suchen.
Sie sahen wie die Auswandererfamilie, anscheinend Großvater, Großmutter, deren Sohn, dessen Ehefrau und deren beider Kindern das Auswandererschiff bestieg. Als der Großvater, ein gütig erscheinender Mann mit klarem Blick, kurz geschnittenem Haar und gestutztem Bart, die Gangway betrat, hatte Samuel das Gefühl diesen Mann zu kennen. Er sah aus wie einer seiner Ahnen. Den kannte er aber nur von einem Bild, das bei seinem Großvater im Wohnzimmer gehangen hatte. Ein Ölgemälde, eine Auftragsarbeit eines unbekannten Künstlers.
Der alte Mann auf der Kinoleinwand drehte sich herum und blickte direkt zu Samuel und Aron in den Kinosaal.
„Aron und Samuel“, sprach er die beiden in bestimmenden Ton an. „Ihr solltet mit uns kommen. Nur mit uns, hier und jetzt, könnt ihr die Freiheit gewinnen.“
Aron und Samuel sahen sich erstaunt an. Wie auf Kommando erhoben sie sich, wie hypnotisiert schritten sie auf die Kinoleinwand zu, verschwanden in ihr und fanden sich plötzlich bei der Auswandererfamilie auf der Gangway des Schiffes wieder. Die Auswanderer umarmten Aron und Samuel zur Begrüßung. Beide fühlten sich geborgen und sehr gut aufgehoben. Das Schiff legte ab und die Reise in die Freiheit begann.
Für die anderen Kinobesucher schloss sich der Vorhang, das „Lichtspiel“ war beendet. Zwei mehr die gerettet waren.


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